LONG DISTANCE CALLING - ERASER


Label:EAR MUSIC
Jahr:2022
Running Time:57:17
Kategorie: Neuerscheinung
 

Wieder sind nahezu exakt zwei Jahre vergangen, seit die Münsteraner Long Distance Calling ihr letztes Album herausgebracht haben. Betouren konnten sie diesen Release aus Pandemiegründen ja leider kaum, was hoffentlich mit dem aktuellen Werk, welches nun erscheint, wieder möglich wird. Lag „How Do We Want To Live?“ ein ganzheitliches Konzept zugrunde, so sind Long Distance Calling dahingehend wohl auf den Geschmack gekommen. Denn das neue Opus, „Eraser“, behandelt erneut ein durchgehendes Thema. Und dieses Thema ist wichtiger denn je. Widmet man sich doch neun Songs lang Tieren, die massiv vom Aussterben bedroht sind, oder bereits als ausgestorben gelten. Aber halt, im Prinzip sind es nur sieben Tracks, denn „Enter: Death Box“ ist lediglich ein Intro mit Piano und Schritt-Geräuschen. Gleichzeitig aber auch ein wenig verstörend.

Und die Abschluß-Nummer „Eraser“ handelt dem Titel entsprechend von einer (noch) nicht aussterbenden Rasse, nämlich dem Menschen. Er trägt die Verantwortung für das Auslöschen so wunderbarer Geschöpfe, wie sie als Beispiele von Long Distance Calling auf diesem Album erwähnt werden. War der letzte Silberling elektronischer als der Vorgänger „Boundless geraten , so geht das Prog(Art)Rock-Quartett diesmal wieder zurück zu gitarrenlastigeren Tunes. Keyboards oder gar Programming findet gar nicht oder nur ganz dezent im Background statt. Auch gibt es diesmal keinen einzigen gesungenen Track, auch keine Stimmen oder ähnliches zwischendurch. Alles läuft rein instrumental ab. Der eigentliche, erste Hit „Blades“ widmet sich dem Nashorn. Harte Gitarrenklänge von Florian Füntmann und die Drums (Janosch Rathmer) beherrschen den viereinhalb minütigen Opener, lediglich zwischendurch von verspielten Tönen im Background und sphärischen Melodien ergänzt. Eine reichlich intensive Nummer zum Auftakt.

Bei „Kamilah“ nimmt man sich des Gorilla an. Drumspiel und elegisch sphärische Gitarrenmelodien treffen auf erneut härtere Gitarrenmomente (Florian Füntmann und David Jordan). Der Song wechselt von harter Intensität in ruhige, sphärisch melodische Parts und wieder zurück. Das Gitarrenthema zum Ende hin unterstreicht den progressiven Anspruch der Band. Atmosphärisch und ein wenig verklärt beginnt „500 Years“, dem Grönland Hai gewidmet. Immer wieder werfen Long Distance Calling der Anmut der Sounds heftige Ausbrüche dazwischen, was die Dramatik des Tracks fördert. Groovige Gitarrenpassagen und abwartende, besinnliche Momente in Moll gehalten, obendrauf. Bei „Sloth“ (hier dreht sich alles um das Faultier) erleben wir dann eine Neuerung im Klang der Band. Jörgen Munkeby von den Norwegern Shining steuert erstmalig Saxophon-Spiel bei. Dieser eher ruhige Song lebt eben von diesem melancholischen Saxophon, aber auch von elegischen Gitarren und rhythmischem Groove. Eine traurig schöne Nummer.

Das kurze „Giants Leaving“ ist danach eine flotte Progabfahrt, die mit gezupften Saiten schnell beginnt und mit harten Riffs aufwartet. Ach ja, Thema hier ist der Albatros. Den mit über zehn Minuten längsten Song haben sich Long Distance Calling für die Biene aufgehoben. Als „Blood Honey“ bezeichnet, startet der Track gemächlich und abwartend, wird dann lebendiger bis eine ruhige Passage mit sphärischen Gitarrenmelodien und Elegien das Drama um dieses Insekt verdeutlicht. Etwas funkiger geht es bei dem „Landless King“ zu. Auch hier ziehen die Gitarristen wieder all ihre melodischen Register und vertonen den Tiger mit tollen Gitarrenharmonien und Slide-Gitarrenklängen. In den schnelleren Momenten regieren wuchtige Drums und der pumpende Bass (Jan Hoffmann).

Bleibt zum Abschluß noch der Mensch, der „Eraser“. Da er in diesem Albumkonzept eine gewichtige Rolle spielt, räumen ihm Long Distance Calling auch gleich über neun Minuten Spielzeit ein. Die Brutalität der Message wird durch verzerrte Klänge, intensive harte Passagen und knallende Drums gezeigt. Die Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit, welche das Thema Aussterben begleitet, lassen die Münsteraner am Ende mittels Streichern und melancholisch langsamem Gitarrenspiel vermitteln. „Eraser“ ist sicherlich eines der ambitioniertesten, mit Sicherheit aber das verstörendste Werk von Long Distance Calling. Auch ohne Lyrics bekommt der Mensch hier den grausamen Spiegel vorgesetzt, was er den vielen Lebewesen, die wehrlos dezimiert werden, antut (und damit sich selbst auch).

Das düstere, aber wunderbar gestaltete Artwork und das Inlay mit Eckdaten zu Art und Population der jeweilig behandelten Tiere, sind ein weiterer Beleg für den Ausnahmestatus dieser Band und die akribische Arbeit der Jungs. Ach ja, die beigefügten Blumensamen werden natürlich nächstmöglich eingesät. Freunde progressiver Instrumentalmusik mit höchsten Ansprüchen müssen auch dieses neue Album von Long Distance Calling zwingend haben. Tolles, aufrüttelndes Konzept, starke Band.

Note: 9 von 10 Punkten
Autor: Erich Robbers


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